Interview
Pierre-Yves Maillard: «Diese Sparpolitik ist völlig unnötig»
Nach einem ereignisreichen Jahr 2024 für die Gewerkschaften und vor einem ungewissen Jahr 2025 – eine Standortbestimmung mit Pierre-Yves Maillard, SGB-Präsident und Waadtländer SP-Ständerat.
2024 neigt sich dem Ende zu. Wie sieht die Bilanz aus gewerkschaftlicher Sicht aus?
Pierre-Yves Maillard : Das Jahr ist noch nicht zu Ende! Am 24. November steht noch eine wichtige Abstimmung an. Wir werden sehen, ob es uns gelingt, beim Mietrecht und bei der Efas zu gewinnen. Was die gewerkschaftliche Politik betrifft, hatten wir ein sehr gutes Jahr bei den Volksabstimmungen! Selbst wenn wir im November bei einer Vorlage scheitern sollten, muss man sagen, dass das Jahr in die Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung eingehen wird. Dass wir zum ersten Mal eine Volksinitiative im sozialen Bereich gewonnen haben, die kurzfristig, d. h. innerhalb von zwei Jahren, eine Stärkung der Kaufkraft der Rentner:innen um fast 4 Milliarden zur Folge hat, ist historisch! Und dass wir die Finanzlobby und die Rechte bei der BVG-Abstimmung schlagen konnten, ist ebenfalls ein Meilenstein. Bei den Renten haben wir wieder ein günstigeres Kräfteverhältnis hergestellt. Also eine recht positive Bilanz!
Wie sieht es bei den weniger politischen Fragen aus?
Was die Entwicklung unserer Organisationen betrifft, hatten wir 2023 ein recht gutes Jahr, da die Mitgliederzahl des SGB leicht gestiegen ist. 2024 ist eher ein leichter Rückgang zu verzeichnen. Bei den Lohnverhandlungen erwarten wir keine spektakulären Ergebnisse, aber immerhin eine Reallohnerhöhung von 1 %. Wir waren bei den Konflikten in Betrieben wie Gerlafingen, Vetropack oder Tamedia sehr aktiv. Es ist eine gewisse Vitalität bei den gewerkschaftlichen Aktivitäten festzustellen. Für eine Mehrheit der Bevölkerung sind die Gewerkschaften bei wichtigen Themen wie der Kaufkraft nach wie vor eine Referenz, eine unverzichtbare Impulsgeberin und Kraft des Widerstands. Bei Abstimmungen geht unsere Unterstützung weit über die Linke hinaus. Das spricht für die gewerkschaftliche Eigenständigkeit. Das verhindert Auswüchse und grosse Rückschritte bei der sozialen Gerechtigkeit, die dem Faschismus den Boden bereiten.
Wird der Sieg für die 13. AHV-Rente nicht ein wenig getrübt durch das Hin und Her über das Inkrafttreten und die Finanzierung?
Wir wissen, dass eine Volksinitiative nur ein Schritt ist. Es ist gut, dass wir einen Text verfasst haben, der so klar ist, dass er sofort angewandt werden kann, was selten der Fall ist. Ohne Ausführungsbestimmungen ist der Bundesrat gezwungen, die Renten 2026 zu erhöhen. Unter dem Gesichtspunkt der Finanzierung ist eine relativ ausgewogene Lösung zu erwarten. Dies umso mehr, als wir Zeit haben. Die AHV wird dieses Jahr fast 4 Milliarden Gewinn machen!
Wie sieht die Bilanz für die Frauen aus?
Zu den erfreulichen Aspekten der letzten Jahre gehört die Stärkung des feministischen Teils der Gewerkschaftsbewegung. Die Frauenstreiks waren sehr eindrucksvoll. Das hat leider nicht unbedingt dazu geführt, dass Frauen in die Gewerkschaften eingetreten sind – obwohl sich die Gewerkschaften stark an deren Organisation beteiligt haben. Unsere Gewerkschafterinnen sind die Vorreiterinnen des feministischen Kampfs. Arbeitnehmerinnen mobilisieren sich. Zweifellos müssen wir mehr Mittel bereitstellen, um deren gewerkschaftliche Einbindung zu verbessern. Das ist eine grosse Herausforderung.
Was hältst du von den Sparmassnahmen des Bundesrates und der Gruppe Gaillard?
Es gibt überhaupt keine Rechtfertigung für diese Sparmassnahmen! Wir sind bereits von einem prognostizierten Defizit von 2,5 Milliarden Franken im nächsten Jahr auf weniger als eine Milliarde Franken heruntergekommen. Das Budgetjahr 2025 werden wir voraussichtlich mit einem Überschuss abschliessen. Diese Kur hat mit der Armee zu tun, deren Budget um 4 Milliarden erhöht werden soll, obwohl deren Bedürfnisse sehr unklar definiert sind. Die Armee kann schon heute nicht ausgeben, was ihr zur Verfügung steht!
Ist es in Zeiten des Klimawandels wirklich eine gute Idee, die Finanzierung des regionalen Personenverkehrs (RPV) zu kürzen?
Nein! Im Gegenteil: Wir müssen die gemeinschaftliche Mobilität fördern! Die Schweiz ist in diesem Bereich seit 20 Jahren vorbildlich. Die Sparpolitik könnte diese Entwicklung blockieren. Ein weiteres Risiko ist die drohende Liberalisierung durch das Abkommen mit der EU.
Was erwartet uns im Jahr 2025?
Es wird eine sehr harte Debatte über Europa geben. Die EU ist kein Ziel an sich, das über den konkreten Interessen unserer Mitglieder und der Arbeitnehmenden steht. Wir sind mit einem Liberalisierungsprojekt konfrontiert, das uns vom Standpunkt des Service public und des Lohn- und Arbeitnehmendenschutzes zurückwirft. Das können wir nicht hinnehmen. Es wird ein Referendum geben. Wir werden starke Nerven brauchen. Man wird uns einschüchtern. Die Interessen, die auf dem Spiel stehen, sind enorm. Unsere Linie ist seit drei Jahren klar. Sie ist nicht nationalistisch, sie ist sozial. Sie ist unnachgiebig, wenn es um die grundlegenden Interessen unserer Basis geht. Ausserdem müssen wir eine Strategie für die Zusatzfinanzierung der AHV finden. Schliesslich müssen wir uns gewerkschaftlich organisieren, wenn wir unsere politische Kraft, die gut ist, erhalten wollen. Wir dürfen keine Mitglieder mehr verlieren, sondern müssen wieder Mitglieder gewinnen.
Ist die von der EU angestrebte Liberalisierung des Schienenverkehrs eine rote Linie für den SGB?
Damit diese Europa-Vorlage eine Chance hat, muss es möglich sein, die vorgeschlagene Liberalisierung im Bahn- und im Energiebereich unabhängig von der Vorlage zu bekämpfen. Der Bundesrat wird diese beiden Liberalisierungsprojekte aus dem ohnehin schon sehr umfangreichen Paket herauslösen müssen, und wir werden sie bekämpfen müssen.
Was ist, wenn man sich über alles andere einig wird, aber nicht über dieses Dossier?
Bisher ist in diesem Paket nichts in Ordnung! Bei den Löhnen ist nichts geregelt, im Gegenteil, insbesondere bei den beruflichen Spesen: Hier wird Dumping begünstigt, weil die Spesenansätze des Herkunftslandes gelten sollen! Europa will keine Kautionen mehr a priori in den GAV, sondern nur noch im Wiederholungsfall bei betrügerischen Unternehmen. Ganz zu schweigen von den Meldefristen, die noch nicht geregelt sind. Was die staatlichen Beihilfen anbelangt, so wäre die Idee, eine Überwachung der Kantone einzuführen, um zu wissen, was sie in Bezug auf Subventionen gegenüber Unternehmen tun, die privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich organisiert sind, aber auf einem offenen Markt agieren. Damit würde eine Büchse der Pandora geöffnet. Die Kombination all dieser Punkte ist brandgefährlich.
Yves Sancey