Nachwehen der Corona-Krise
Erst Gesundheitskrise, dann Wirtschaftskrise
Durch den zweimonatigen Lockdown konnte die Schweiz die Zahl der Corona-Todesfälle bis Anfang Juni auf 1657 beschränken. Während wir uns langsam von der Pandemie erholen, bekommt das Land nun die wirtschaftlichen Auswirkungen der Massnahmen zu spüren, und die nächste schwere Krise zeichnet sich ab.
Bevor wir die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen betrachten, werfen wir zunächst einen Blick auf den öffentlichen Verkehr. Die Grundversorgung war stets gesichert, obwohl die Krise den öV stark traf: Die Zahl der Fahrgäste ging im Vergleich zur Normalsituation um 80 bis 90% zurück (siehe Interview mit Giorgio Tuti). Bernmobil prognostizierte Ende Mai Verluste von 20 bis 30 Millionen Franken, was einen Viertel des Umsatzes ausmacht. Nach Angaben vom Verband öffentlicher Verkehr (VöV) beträgt der durchschnittliche Umsatzrückgang durch die geringere Kundenfrequenz für die Betreiber rund 500 Mio. Franken pro Monat.
Verkehrsbetriebe im tiefroten Bereich
Das Ausmass der Verluste hängt von einem wesentlichen, unkontrollierbaren Faktor ab: Wie lange wird die Angst das Verhalten der Nutzer/innen beeinflussen, die nach und nach zum öffentlichen Verkehr zurückkehren? Bei Bernmobil liegt die Passagierzahl «aktuell bei gut 50% gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr», erklärte Sprecher Rolf Meyer Ende Mai gegenüber dem «Bund». Es besteht Hoffnung, dass der öffentliche Verkehr das Vertrauen der Nutzer rasch wiedergewinnen kann. Dennoch werden die ausbleibenden Einnahmen durch das über Monate reduzierte Nutzervolumen die Bilanzen der verschiedenen Betreiber belasten und auf die eine oder andere Weise aufgeholt werden müssen. Entsprechend wird der öffentliche Verkehr im Jahr 2020 tiefrote Zahlen schreiben.
Verluste der Verkehrsbetriebe mindern
Während der letzten Parlamentssitzung im Mai versprach Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga Lösungsvorschläge für diesen Sommer und einen Verteilschlüssel zwischen Bund, Kantonen und Betreibern, die aufgefordert würden, auf ihre Reserven zurückzugreifen. Diese Ansage folgte der Annahme einer Motion zur Verlustminderung in der Branche. Ende Mai gab der «Bund» bekannt, dass das Bundesamt für Verkehr (BAV) an Massnahmen arbeitet, um Transportunternehmen dabei zu helfen, die durch die Pandemie entstandenen Verluste auszugleichen. «Die Unterstützung des Bundes beim Ausgleich der Defizite ist für die Verkehrsbetriebe enorm wichtig», betont Christian Fankhauser, Vizepräsident des SEV. Im Gegenzug erwarte der Bund, dass die Unternehmen ihr Möglichstes tun, um den Schaden zu begrenzen. Zudem ist der Verzicht auf Dividendenzahlungen eine zwingende Bedingung für staatliche Hilfe. Zwei tripartite Runde Tische haben bereits stattgefunden. Der SEV wird darauf achten, dass der Bund und die Unternehmen nicht durch reduzierte Dienstleistungen oder Sparmassnahmen auf dem Rücken des Personals versuchen, die Kosten zu senken.
Derzeit spielt sich ein weiterer, sehr wichtiger Kampf ab: die Frage nach der Finanzierung des regionalen Personenverkehrs (RPV). Bundes- und Kantonsbeiträge (jeweils ca. eine Milliarde Franken pro Jahr) decken rund die Hälfte der Kosten. Reisende bezahlen die andere Hälfte mit dem Kauf von Tickets und Abonnements. Bis zum 18. Mai lief die Vernehmlassung des Bundesrats zu seinem Antrag auf einen Verpflichtungskredit in Höhe von 4,4 Milliarden für die Finanzierung des RPV in den Jahren 2022 bis 2025. Dies entspricht einer Erhöhung um rund 300 Millionen Franken im Vergleich zur Vorperiode. Das BAV stellt auf seiner Webseite klar, dass «die finanziellen Folgen der Coronavirus-Pandemie separat behandelt werden und nicht Teil dieses Projekts sind». «Das ist ein klares Zeichen», unterstreicht Christian Fankhauser. «Die Schweizer Behörden beabsichtigen, den öffentlichen Verkehr weiter auszubauen und die Dienstleistungen sowie Stellen nicht zu reduzieren.» Die Arbeitgeber hingegen haben durch das Sprachrohr von Economiesuisse bereits bekannt gegeben, dass sie die Mittel reduzieren wollen.
Verändertes Nutzerverhalten?
Wird die Krise das Mobilitätsverhalten und bestimmte grundlegende Parameter unserer Gesellschaft verändern? «Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob und wie die Pandemie die Funktionsweise der Welt verändern wird», sagte Ende April in Swissinfo Vincent Kaufmann, Professor für urbane Soziologie und Mobilitätsanalyse an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (ETHL). Er merkt an, dass angesichts der schwierigen Umsetzung des Sicherheitsabstandes von zwei Metern «das öffentliche Verkehrssystem selbst auf dem Spiel steht, was sehr besorgniserregend ist.» Er glaubt dennoch, «dass der Rückgang der Attraktivität des Autos» ein Trend ist, «der nicht verschwinden wird».
Das Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen Deloitte bekräftigt jedoch genau das Gegenteil: Laut seiner am 2. Juni veröffentlichten Umfrage, die zum Höhepunkt des Lockdowns Mitte April durchgeführt wurde, wird es zu einer «Wiederbelebung der individuellen Transportmittel» kommen. Zum Zeitpunkt der Umfrage bestätigte fast ein Drittel der Befragten, sie würden sich in Zukunft häufiger zu Fuss, mit einem Elektroscooter oder mit dem Fahrrad fortbewegen. Es besteht kein Zweifel, dass das Radfahren eine glänzende Zukunft haben wird. Aber dass diese Entwicklung zu Lasten von Bus und Zug gehen wird und wir dadurch einen Rückgang oder «eine signifikante Verringerung der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel» erleben werden, scheint in Anbetracht des aktuellen Klimanotstands eine zweifelhafte Schlussfolgerung zu sein. Diese «Studie» kam genau zur rechten Zeit, um das neoliberale Orchester von Economiesuisse zu begleiten und den Umfang des öffentlichen Verkehrs anzugreifen.
Natürlich ist es denkbar, dass die Überlastung des öV in Spitzenzeiten abnimmt: Durch die weitere Verbreitung von Heimarbeit könnte die Auslastung tagsüber ausgeglichen werden, sodass der öV in den Hauptverkehrszeiten entlastet und zu Randzeiten besser genutzt wird. Jedoch birgt Homeoffice auch Gefahren, wenn es nicht geregelt wird (siehe nebenstehenden Artikel). «Dies ist ein möglicher Effekt der Krise» analysiert der Geograf Pierre Dessemontet, Dozent an der ETH Lausanne, in «Le Temps».
Schlimmste Krise seit 1975?
Andere Branchen sind von der Krise weitaus stärker betroffen als der öffentliche Verkehr, insbesondere Unternehmen, die mit der Exportindustrie verbunden sind (Uhrmacherei, Werkzeugmaschinen) oder ihren Betrieb vollständig einstellen mussten (Hotels, Restaurants, Luftfahrt, Kultur und Hauswirtschaft). In Genf wurden Nahrungsmittel an Tausende von Menschen verteilt, die durch den Lockdown ihr Einkommen verloren und keinen Anspruch auf finanzielle Unterstützung haben – ein deutliches Zeichen der rasanten und extremen Präkarisierung in manchen Gesellschaftsschichten. Auch die Selbstständigen sind stark von der Wirtschaftskrise betroffen, ebenso junge Menschen, die keine Lehrstelle finden, und ältere Arbeitnehmende. Zwischen Februar und April ist die Zahl der Arbeitslosen in der Schweiz in zwei Monaten um 30% gestiegen und steigt seither weiter an. Das Seco gab Ende April bekannt, die Schweizer Wirtschaft bereite sich auf die «schlimmste Krise seit 1975» vor. Wenn das soziale Sicherheitsnetz nicht gestärkt wird, riskieren wir, dass die Zahl der Armutsbetroffenen explosiv ansteigt. Dieses Szenario ist jedoch nicht unvermeidlich.
Soziale Wende oder Deregulierung
Es wurden viele Vorschläge gemacht, wie auf die Krise zu reagieren ist, ohne erneut auf eine Spar- und Deregulierungskur zu setzen. Eine solche würde Arbeitenden mit tieferen Einkommen, die sich gerade in der Corona-Krise sehr verdient gemacht haben, besonders schaden. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) forderte am 25. Mai ein Verbot von Entlassungen, insbesondere in Unternehmen, die von Kurzarbeitsentschädigungen profitieren, sowie eine 100%-Lohngarantie für von Kurzarbeit betroffene Angestellte mit niedrigem Einkommen. Für den SGB braucht es zusätzliche wirtschaftliche Unterstützungsmassnahmen, um eine ernsthafte Rezession zu verhindern. Bei der Entwicklung dieser Massnahmen müssen die Sozialpartner in eine Arbeitsgruppe miteinbezogen werden. Der Dachverband der Gewerkschaften schlägt auch eine Verlängerung der Arbeitslosenentschädigung vor. Dies ist notwendig, um jungen Menschen und Arbeitnehmenden am Ende ihrer Karriere mehr Sicherheit zu bieten.
Um einen rasanten Anstieg sozialer Ungleichheiten zu vermeiden, fordert ein Aufruf aus linken Kreisen «eine Solidaritätssteuer von mindestens 3% auf hohe finanzielle Vermögenswerte für mindestens zehn Jahre». Damit ständen der öffentlichen Hand jährlich 30 Milliarden Franken mehr zur Verfügung. Die Wirtschaftswissenschaftler Christian Marazzi und Sergio Rossi schlugen vor, jeder Person mit einem verfügbaren Einkommen von weniger als 50000 Franken ein Noteinkommen von 1000 Franken pro Monat zu zahlen, das sie innerhalb von 60 Tagen in der Schweiz ausgeben sollten. Für Rossi liegt die Antwort auf die Krise darin, die Nachfrage durch finanzielle Anreize zu erhöhen: «Wir müssen die Kaufkraft der Haushalte steigern.»
Einige Stimmen gehen noch weiter und fordern eine Kursänderung im sozialen und wirtschaftlichen System. Das Frauenstreik-Kollektiv hat 14 Forderungen in diese Richtung gestellt, darunter 60 Milliarden für öffentliche Dienstleistungen und das Wohlergehen der Bevölkerung. Die Klimastreikenden fordern insbesondere die Schaffung eines «Klimafonds» mit 50 Milliarden und die Schaffung eines «öffentlichen Amtes für umweltfreundliche Arbeit», das beispielsweise zur Umschulung von Arbeitnehmenden in der Luftfahrt beitragen würde.
SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard fordert «ein Programm zur Ankurbelung der Wirtschaft, das sich auf ökologische und soziale Transformation konzentriert». Ausserdem sollen die Reserven der Schweizerischen Nationalbank von 850 Milliarden verwendet werden. Im Gegensatz dazu bekämpft Avenir Suisse das «milde Gift der staatlichen Unterstützung». Die Denkfabrik der Arbeitgeber lehnt jeden Ausbau des sozialen Sicherheitsnetzes ab und fordert den Rückzug von Bundesmassnahmen, die während der Pandemie die Finanzierung der Arbeitslosen- und Erwerbsersatzversicherung stärkten. Sozialstaat oder Sparmassnahmen? «Wenn es keine Mobilisierung der Bevölkerung gibt und wir dies zulassen, wird sich der extreme Liberalismus durchsetzen», warnt der Wirtschaftswissenschaftler und Nationalrat Samuel Bendahan (SP/VD) in «Le Temps».
Yves Sancey; Übersetzung: Karin Taglang